Vera Zingsem: Rede zur Feng-Shui Ausstellung

Vera Zingsem
Theologin, Mythenforscherin, freie Autorin und Dozentin (FH), Mitglied in der GEDOK Stuttgart und im Vorstand des Schriftstellerverbandes Baden-Württemberg

Feng Shui – eine Lebensphilosophie?

„Wenn du einem Haine nahst, der durch zahlreiche alte und ungewöhnlich hohe Bäume ausgezeichnet ist und in dem Schatten der einander bedeckenden Zweige den Eindruck des Himmelsdaches hervorruft: Die schlanke Höhe der Bäume, das geheimnisvolle Dunkel des Ortes, die Bewunderung des so augenscheinlich dichten und durch nichts unterbrochenen Schattens ruft in dir den Glauben an eine Gottheit wach. Und wo eine tiefe Grotte sich unter überhängenden Felsen in den Berg hineinzieht, nicht von Menschen gemacht, sondern durch Naturkräfte so weit ausgehöhlt, wird eine Seele von der Ahnung des Göttlichen durchbebt werden.“

Diese Gedanken stammen nicht etwa von einem alten Feng Shui – Meister, sondern von dem römischen Philosophen Seneca, der zur Zeit des Kaisers Nero lebte, und sie zeigen beispielhaft, dass die Grundlagen des Feng Shui durchaus auch in unserer Kultur auf Widerhall stoßen. Nur hat man bei uns aus solchen Äußerungen kein das gesamte Leben durchdringendes und mit einbeziehendes System entwickelt.

Was ist Feng Shui?

Vom Wortsinn her bezieht es sich zunächst einfach auf zwei Naturphänomene: Wind (Feng) und Wasser (Shui). Historiker vermuten, dass sich die Chinesen ursprünglich vor allem in zwei Regionen des Landes angesiedelt haben: Im Norden, wo es prinzipiell feucht und kalt war und im Süden, wo Wärme und Trockenheit vorherrschten. Die Menschen im eher kargen Norden kämpften vor allem mit dem Wind, der sich oft zu Wirbelstürmen steigerte. Im fruchtbaren Süden dagegen war es wichtig, das Wasser so zu lenken, dass es die ertragreichen Äcker gleichmäßig bewässerte und nicht überschwemmmte und so die Ernte vernichtete. Hier ging es tatsächlich und ganz elementar um den rechten Umgang mit Wind und Wasser.

Das Alter der Feng Shui -Lehre schätzt man auf gut 4000 Jahre. Die Chinesen sind früher als andere Völker sesshaft geworden und haben ihre Schriftkultur vergleichsweise früh entwickelt. Gut nachweisbar ist Feng Shui seit der Chou – Dynastie, die sich im Jahre 1122 v. Chr. in der Hauptstadt Ying etablierte und bis 255 v. Chr. die Geschicke des Landes bestimmte. Der erste Kaiser von China, Qin Shi Huangdi vereinheitlichte um 200 v. Chr. die Schrift. Seitdem besitzen wir kontinuierliche Zeugnisse über Geschichte, Kultur, Wissenschaft – und eben auch über die Entwicklung des Feng Shui in den verschiedenen Epochen Chinas.

Von Anfang an trafen im Feng Shui Naturbeobachtung und Spiritualität zusammen. In der Geschichte Chinas spielte seit je der Ahnenkult eine besondere Rolle. Es scheint, als sei auch die Kunst des Feng Shui zunächst vor allem in Bezug auf Grabstätten entwickelt worden. Als erstes und wichtigstes Feng Shui -Werk gilt heute das „Buch der Beisetzungen“, das aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert stammt. Ein zweites Grundlagenwerk, das sich mit den Wohnungen der Lebenden befasst, erschien erst 100 Jahre später. So erkennen Forscher in den verschiedenen Gräberformen aus der ChouZeit erste wissenschaftliche Belege einer angewandten Feng Shui Praxis.

In gewisser Weise ging es darum, dem „Geist des Ortes“ nachzuspüren (den auch wir als „genius loci“ kennen) ; der gleichmäßig und harmonisch verströmende Lebensatem der Erde sollte die Ahnen glücklich machen. Die Geschicke der Lebenden, so stellte man sich vor, hängen zu einem gewissen Grad von der günstigen Lage der Vorfahren in ihren Gräbern ab. Sind sie so platziert, dass sich die Geister der Ahnen dort wohl fühlen, so werden sie ihren Nachkommen gegenüber positiv eingestellt bleiben und bereit sein, sie mit allem Segen, der für die Geisterwelt erreichbar ist, zu überschütten. So war es zum Beispiel undenkbar, Gräber in tiefen Senken oder auf Sturm umtosten Höhen zu errichten, denn hier würden die Geister niemals zur Ruhe kommen. Unruhige Geister aber hielt man dafür, Unglück und schlechte Gesundheit über ihre Verwandten zu bringen.

Gingen die Chinesen nun daran, ein Haus für die Lebenden zu errichten, so verfuhren sie ähnlich, nämlich von außen nach innen. Sie legten zuerst den Garten an, in den sie danach ihr Heim einfügten, so wie man eine Pflanze einsetzt. Harmonie und Einklang mit der Natur waren oberstes Gebot. Und das geschah schon ziemlich früh, denn es gibt Hinweise darauf, dass in China, lange vor unserer Steinzeit, bereits kunstvolle Häuser aus Bambus errichtet wurden.

Weltbild und philosophisch – theologischer Hintergrund des Feng Shui

Wie aus dem zuvor Gesagten schon deutlich wurde, ist ein wesentliches Ziel des chinesischen Denkens und Fühlens, sich in Einklang mit allem zu finden, das ist. Dazu war es unabdingbar, die Gesetzmäßigkeiten zu (er-)kennen, nach denen sich generell alles Leben vollzieht, von dem der Mensch ja nur Teil ist und an dem er teilhat. Anpassung oder vielmehr Einpassung gelten deshalb als höchste Werte im chinesischen Weltbild. Es geht nicht darum, das Bestehende zu ändern ( zu beherrschen) sondern darum, das Vorhandene zuerst einmal gründlich zu beobachten und zu erfassen. So heißt es in den Kommentaren zur Entstehung des I Ging des berühmten „Buchs der Wandlungen“ (in der Übersetzung von Richard Wilhelm):

„Als in der Urzeit Bau Hi die Welt beherrschte, da blickte er empor und betrachtete die Bilder am Himmel; blickte nieder und betrachtete die Vorgänge auf Erden. Er betrachtete die Zeichnungen der Vögel und Tiere und die Anpassungen an die Orte. Unmittelbar ging er von sich selbst aus, mittelbar ging er von den Dingen aus. So erfand er die acht Zeichen, um mit den Tugenden der lichten Götter in Verbindung zu kommen und aller Wesen Verhältnisse zu ordnen.“

Oder an anderer Stelle:

„Die heiligen Weisen von alters her machten das Buch der Wandlungen also. Sie betrachteten die Veränderungen im Dunkeln und Lichten und stellten danach die Zeichen fest. Sie erzeugten Bewegungen im Festen und Weichen und ließen so die einzelnen Linien entstehen. Sie brachten sich in Übereinstimmung mit Sinn und Leben und stellten demgemäß die Ordnung des Rechten auf. Indem sie die Ordnung der Außenwelt bis zum Ende durchdachten und das Gesetz des eigenen Innern bis zum tiefsten Kern verfolgten, gelangten sie bis zum Verständnis de Schicksals. “Hier geht es um intuitives Verstehen der Weltverhältnisse, ein Ausloten bis in die letzten Tiefen von Natur und Geist.

Das erste Verhältnis, das auf diese Weise gefunden und zur Grundlage der gesamten chinesischen Philosophie wurde, ist das Zu- und Miteinander der beiden Grundkräfte der Welt: Yin und Yang. Dieses System von Yin und Yang ist auch Grundlage von Feng Shui, dessen oberstes Ziel in der Harmonisierung dieser beiden Grundkräfte liegt. Ursprünglich aufgefasst als die schattige und die leichte Seite eines Berges (wörtlich: „bedecktes Wetter an einer Bergseite“ und „Sonnenseite eines Berges“), wurden diese beiden Begriffe (oder vielmehr Bilder) zur Bezeichnung aller nur möglichen Gegensätzlichkeiten in der materiellen und geistigen Welt, von denen im Folgenden einige genannt sein sollen:

Erde – Himmel
Erdgöttin – Himmelsgott
Nacht – Tag
Schatten – Licht
Winter- Sommer
Kälte – Hitze
Intuition – Intellekt
Ruhe – Aktivität
Empfangend – schöpferisch
Weich – hart
Feucht – trocken
Rund, Oval – spitz
Innen – außen
Schwarz – weiß
Weiblich – männlich

Hervorgegangen aber sind beide aus dem Tao (gesprochen: Dau), dessen Wesen und sichtbare Gegenwärtigkeit sie zugleich repräsentieren: „Einmal Yin, einmal Yang, – das nennt man Tao“. ´heißt es in einem Hauptkommentar zum „I Ging“.

Dieses Tao ist sozusagen die unpersönlich-persönliche „Gebärerin der Welt“, die als uranfängliche Leere alle Möglichkeiten in sich enthält. Wie es in ODE 25 des Tao-te-king heißt:

Es gibt ein Wesen, aus dem Unfassbaren gebildet,
Vor Himmelsgott und Erdgöttin lebend,
So still! So leer!
Allein steht es und ändert sich nicht.
Den Kreis rings schreitet es ab und läuft nicht Gefahr
Man kann es ansehen als die Mutter der Welt.
Ich weiß nicht ihren Namen,
Sie bezeichnend sage ich:
DAU (Tao), die Führerin des Alls

In der Welt verwirklicht sich das Tao in und durch die beiden Grundkräfte von Yin und Yang, mit denen in Einklang zu leben deshalb oberstes Weltgesetz ist. Wodurch wir Menschen gleichzeitig im Tao, man könnte auch sagen im Gleichgewicht, in der Mitte bleiben.
So heißt es in Ode 42 des Tao-te-king:

Die Führerin des Alls bringt die Einheit hervor,
Die Einheit bringt die Zwei hervor (Yin),
Die Zwei bringen des Dritte hervor (Yang),
Die drei bringen die zehntausend Wesen hervor (die Gesamtheit unserer Welt),
Die zehntausend Wesen tragen daher rückwärts das Dunkle (Yin),
und hegen vor sich das Helle (Yang),
Der verströmende Lebensodem (Chi) bewirkt die Vereinigung beider.

Yin und Yang sind also nicht Gegensätze im Sinne von Ausschließlichkeit, sondern im Sinne von Ergänzung. So wie die helle und die dunkle Seite eines Berges nicht voneinander zu trennen sind, so verdeutlichen die Energien der beiden Grundkräfte das immerwährende Wechselspiel aller Erscheinungen der sichtbaren wie der unsichtbaren Welt, als einen grundsätzlich allen Phänomenen innewohnenden Charakter. Kein Licht ohne Dunkelheit, kein Tag ohne Nacht, kein Leben ohne Tod, kein Mann ohne Frau. Wie es sehr treffend in Ode 2 des Tao-t3e-king ausgedrückt ist:

Erkennen alle in der Welt das Schöne als schön,
So ist damit auch das Hässliche gesetzt.
Erkennen alle in der Welt das Gute als gut,
So ist damit auch das Schlechte gesetzt:
Also:
Sein und Nichtsein einander erzeugen,
Schwierig und leicht einander zustande bringen,
Lang und Kurz einander gestalten,
Hoch und Nieder einander verkehren,
Stimme und Klangspiel zueinander passen,
Vor und Nach auseinander folgen.

Kein Phänomen könnte für sich beanspruchen rein Yin oder Yang zu sein. Das Hin und her zwischen Yin und Yang wird als ein beständiges Fließen vorgestellt. Jedes Yin trägt immer einen Anteil Yang in sich, jedes Yang ist ein Keim von Yin. Im klassischen Yin -Yang – Symbol finden wir im lichten Yin den dunklen Punkt und umgekehrt im dunklen Yang den hellen Punkt. Keine Situation währt ewig: kommt das Helle zu seiner größtmöglichen Ausdehnung, so muss es abnehmen (wie der Vollmond oder die Sonne auf ihrem Zenit) und auch in der größten Dunkelheit wächst unmerklich schon ein Hoffnungsschimmer heran. Das ist der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen, dem die Welt nicht entkommen kann, es sei denn um den Preis der Unangepasstheit. Im zyklischen, rhythmischen Wechsel liegt die Harmonie. Auch das entspringt einer einfachen Naturbeobachtung: In der Natur gibt es nichts „Lineares“, Kantiges und Eckiges. Die Jahreszeiten gehen zyklisch ineinander über, die Elemente (Ho lz , Feuer , Erde , Meta l l , Wasser) bedingen und fördern einander in einem beständigen Kreislauf. Auch Chi, die Lebensenergie, die Yin und Yang vereinigt, fließt sanft wellenförmig wie ein sich schlängelnder Bach oder ein mäandernder Fluss.

Und hier kommen wir zu einem weiteren „Gegensatzpaar“, das für ein Verständnis von Feng Shui unverzichtbar ist: Ch i und Sha. Ein klassisches Zitat besagt: „ Wer Chi erkennt, der versteht Feng Shi“. Chi ist die Energie des Lebens, das vitalisierende Prinzip, das der Gesamtheit des Kosmos, allen 10.000 Wesen innewohnt und zugleich alle miteinander verbindet. Gerät Chi „aus dem Fluß“, so entsteht Sha – Energie, die für Blockaden sorgt. Sha ist im wesentlichen fehl gelenktes, beschleunigtes (Yang), mangelhaftes oder stagnierendes (Yi) Chi, im Grunde nur eine andere Ausdrucksform für ein und dieselbe Energie. Was deutlich wird durch die Bezeichnung Sha -Chi, wie das Sha auch genannt wird. Es sammelt sich an senkrechten oder waagerechten Kanten von Tischen, Regalen oder Schränken, in Zimmerecken, in jeder Art von Unordnung (Stau(b)-Energie) … Wichtig ist auch hier, dass wir Sha nicht als etwas „Böses“ oder Unveränderliches ansehen, sondern damit arbeiten, um die Energie wieder zum Fliessen zu bringen: das worum sich Feng Shui im Eigentlichen und Zentralen bemüht, weshalb man auch sagen könnte: Feng Shui ist die Lehre von den Energiebewegungen. Und in diesem Sinne ist Energiemangel ebenso wenig zu begrüßen wie Energieüberfluss. Es kommt immer auf das rechte Maß an, und wer wüsste damit besser umzugehen als die Menschen aus dem „Reich der Mitte“?

Die Geschichte vom Regenmacht: Mit sich und der Welt in Fluss

Was passiert, und welche Auswirkungen es haben kann, wenn ein Mensch wirklich im Tao, mit sich und der Welt in Fluss, ist, davon vermittelt uns Richard Wilhelm, der als erster den Text des chinesischen „Buchs der Wandlungen“ (schon 1923) ins Deutsche übersetzte, einen lebhaften Eindruck:

In dem Teil Chinas, wo Wilhelm lebte, herrschte damals eine schreckliche Dürre. Als schließlich gar nichts mehr half, entschloss man sich nach einem Regenmacher zu schicken, was den christlichen Missionar (der Wilhelm ja ursprünglich war) natürlich brennend interessierte. Der Regenmacher, ein kleiner verhutzelter alter Mann, reiste in einem gedeckten Wagen an. Als er ausstieg, schnüffelte er die Luft mit offensichtlichem Abscheu und bat alsbald darum, in einer kleinen Hütte außerhalb des Dorfes allein gelassen zu werden. Selbst sein Essen sollte man ihm draußen vor die Tür stellen. Drei Tage lang sah und hörte man nichts von ihm. Dann fing es nicht nur an zu regnen, sondern es gab noch zusätzlich starken Schneefall, der um diese Jahreszeit ganz unbekannt war. Nun war Wilhelms Neugierde erst recht geweckt, und er erkundigte sich bei dem Regenmacher, wie er es denn fertig gebracht hätte, Regen und sogar Schnee herbei zu zaubern. Der Regenmacher bestritt jedoch, auch nur im geringsten für den Schnee verantwortlich zu sein. Wilhelm bestand darauf, dass eine furchtbare Dürre geherrscht hatte und dann, nach drei Tagen, plötzlich sogar ungewöhnlich große Mengen Schnee gefallen seien. Da erwiderte der alte Mann: „Oh, das kann ich selbstverständlich erklären. Sehen sie, ich komme von einem Ort, wo die Menschen in Ordnung sind; sie sind im Tao, deshalb ist das Wetter bei ihnen auch in Ordnung. Als ich hierher kam, durchschaute ich sofort, dass die Leute verwirrt waren und mich mit ihrer Unordnung ansteckten. So blieb ich allein, bis ich wieder im Dau war. Und dann schneite es natürlich.“

Literatur:

Fröhlich, Thomas, Martin, Katrin: Feng Shui heute, München 2003
I Ging, Das Buch der Wandlungen, hrsg. von Richard Wilhelm, Köln 1984
Lao-tse, Führung und Kraft aus der Ewigkeit. Das „Tao-te-king“ in der Übertragung von Erwin Rousselle, Frankfurt 1985
Zingsem, Vera: Der Himmel ist mein, die Erde ist mein. Göttinnen großer Kulturen im Wandel der Zeiten, Tübingen 1995; seit 1999 bei dtv unter dem Titel „Göttinnen großer Kulturen“
Dies.: Schlangenfrau und Chaosdrache (zusammen mit Barbara Stamer), Stuttgart 2001
Dies.: Klar wie Wasser oder: Zur eigenen Quelle finden, Freiburg 2002