Dr. Brigitte Bausinger: Rede zur Feng-Shui Ausstellung

Rede der Frau Dr. Brigitte Bausinger, Kultuwissenschaftlerin
Reutlingen Vernissage Gruibingen 9. Juli 2004:

Vor 70 Jahren hatte der Pfarrer von Guibingen ein damals noch verhältnismäßig seltenes Hobby: Er fotografierte, und es kam ihm nicht in erster Linie darauf an, schöne landschaftliche Szenerien einzufangen, sondern es ging ihm um das Leben im Dorf, um die Menschen in Gruibingen, ihre schwere Arbeit, ihre alltäglichen Verrichtungen, ihre sparsame Freizeit. Das Dorf Gruibingen besitzt durch diesen Pfarrer, Walter Frieß, eine einzigartige Dokumentation seiner bäuerlichen Vergangenheit, und durch ein von der Gemeinde herausgegebenes Buch ist sie zu einem Erinnerungsstück der meisten Einwohner geworden.

Wenn man in dem Buch blättert, erhält man ein eindringliches Bild von harter Mühsal, und auch von Armut und Not. Aber das Merkwürdige ist, dass die Bilder fast alle den Eindruck erwecken, dass die Menschen damals – vor zwei Generationen noch – aus einer sicheren Mitte heraus gelebt haben. Dass es wenig Spaß gab und Vergnügen rationiert war, dass aber aus den Gesichtern immer wieder Stolz und Zufriedenheit spricht.

Warum erzähle ich das? Wir sind hier auf Gruibinger Markung, aber wir befinden uns nicht in einem fest umschlossener Gemeinwesen, sondern an einer Stätte extremer Mobilität: Menschen kommen und gehen, werden herein gespült und wieder fortgetragen, und Tag und Nacht fließt der Verkehr. Was aber geblieben ist, ist das Bedürfnis, ja die Sehnsucht der Menschen, in all dem Getriebe eine Mitte und feste Haltepunkte /u finden, und sei es auch nur temporär, im mehr oder weniger raschen Durchgang.

Die Kunst antwortet auf dieses Bedürfnis; sie nimmt sich der Aufgabe an. Möglichkeilen der Mitte zu entwerfen. Weltanschauliche Fixierungen sind damit nicht gemeint. Unmittelbar nach dem Krieg, 1948, machte der österreichische Kunsthistoriker Hans Sedlmayr Furore mit seinem Buch „Verlust der Mitte”, mit dem er den Künsilem in einer Zeit extremer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit die Rückkehr zu den Themen und den Werten christlich-abendländischer Kunst verordnen wollte – gegen die neuen Ansätze, die sich vom Gegenständlichen verabschiedeten. Die Künstlerinnen und Künstler haben sich von dieser eng definierten Mitte nicht gefangennehmen lassen, und sie bewegen sich heute mehr denn je in einer freien Landschaft, in einem weit gespannten Experimentierfeld. Ich bin kein Missionsredncr fiir Feng Shui, und es ist nicht meine Aufgabe, die Prinzipien und die existenziellen Bezüge dieser Weltsicht aufzudecken. Aber ich meine, dies sei eines der zentralen Ziele, eine der wichtigsten Botschaften: In der Hast, Hektik und Unruhe unserer Zeit, im nicht mehr begrenzten Feld der Kommunikation Entwürfe eines gesicherten Daseins vorzustellen und ein Gefühl der Mitte zu übertragen. Das ist – es mag erlaubt sein, diese laienhafte Impression vorzutragen – das ist den Architekten der neuen Raststätte gelungen. Sie ist in die heimische Landschaft eingebettet mit der eleganten, großzügigen Linienführung der Dachkonstruktion und mit ihren Außenfassaden aus Naturstein und fernöstlichen Holzzeichen. Trotzdem Ausgriff auf Fremdes wirkt sie nicht wie ein exotischer Bau, sondern versöhnt sich mit ihrer Umgebung. Noch rauscht kein Bach in der üppigen Grünumrandung, aber alles ist darauf angelegt, auch das Wasser als sprudelndes Element in das Spiel ein zu beziehen, es ins Innere zu leiten, wo sich das harmonische Zusammenspiel aus Naturmaterialien und Farbe fortsetzt. Maße Tür „Raub” und „Unfall” ängstlich gemieden haben jedenfalls haben sich alle auf Prinzipien von Feng Shui eingelassen, teils sehr ernsthaft und teils eher spielerisch und daraus ist eine reiche, auch spannungsreiche Gcsamtkomposition geworden.

Aber ehe ich (zwangsläufig nur mit schnellen Blicken, wofür ich um Verständnis bitle!) von den Kunstwerken spreche, möchte ich noch einmal auf die Treppe hinweisen: Verharren Sie beim Aufgang einen Moment durch die große Fensterfront am oberen linken Giebel erscheinen Himmelspartien, blau, bewölkt, grau, je nach Tageszeit und Wetterlage. Dieser Himmel ist immer da und trifft, wenn Sie sich in dem oberen Raum bewegen, mit dem Kamm grüner Hügel zusammen. So ereignet sich ständig ein Naturschauspiel, ein kontrastreicher Farbwechsel von blau und grün, hell und dunkel.

Dieses Farbspiel leitet für mich über zur Kunst, die Sit in den beiden Räumen (unten und oben) sehen. Blau ist – ob nun Wind oder Wasser, was ja der eigentliche Wortsinn von Feng Shui ist – blau ist das Inspirationspotcnzial für viele der hier vertretenen Künstlerinnen. Die Farbe Blau dominiert die Ausstellung, vor allem auf das Element Wasser bezogen- In differenzierten Blau- bis Violctttönen nimmt sich die Künstlerin Margarete Baur dieses Themas an und entwirft grandiose Meerbilder mit tiefen Horizonten. Monika Krautscheid-Bosse fabuliert eine Windsbraut mit Boa im dichten Wolkcngetümmcl. Sibylle Burr setzt die Farbe Blau nicht nur in einer von hell bis dunkel sich steigernden Folge, sondern hat das fließende Blau auch in ein Video gebannt. „Efflux”, vom lateinischen effluere abgeleitet, heißt das Ausströmende, Wegfließende. Genau das ist ihre Konzeption, ihr Programm, das sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Karsten Hoppe (dem einzigen Mann in dieser künstlerischen Damenliga) realisiert hat. Nehmen Sie sich bitte die Zeit, diesen kleinen Film anzusehen mit seinen wunderbaren Sequenzen, in denen, wie von Zauberhand dirigiert, blaue Farbstoffpigmente in quirligen Arabesken auf den Grund eines Wasserglases fallen und, nachdem das Glas tiefblau bis zum Rand gefärbt ist, zu den Klängen meditativer Musik auf die gleiche wunderbare Weise wieder entweichen.

Auch Renate Quast setzt auf Sequenzen und präsentiert eine neue, großartige Fotografik-Serie, die – gleich am Eingang, an der rotgrundigcn Wand platziert – eine ideale Verbindung zwischen dem Außen und Innen der Feng-Shui-Stätte herstellt, auch wenn das so von der Künstlerin nicht geplant werden konnte. Eher zufällig fiel ihr Blick vom Kloster Obcrmarchtal auf eine Ansammlung von Steinen im Flussbett der Donau.

Ein Ort der Stille ist es natürlich nicht geworden und wird es auch in Zukunft nicht sein. Und doch: In der wuselnden Selbstversorgung zwischen Bratwurst, Cola und Souvenirs kann das ungewohnte Ambiente der äußeren wie inneren Architektur etwas vermitteln von Konzentration und Leichtigkeit, und sei es auch nur im schnellen Durchgang zu anderen Zielen. Eines dieser Ziele, ein Nahziel, sind die oben angesiedelten Toiletten mil ihren raffinierten Spülmechanismen, zu denen eine Treppe mit geschwungenem blauem Geländer hinauffuhrt. Ein ungewöhnlicher Ort für diesen Bereich, der üblicherweise treppabwärts angesiedelt ist. Ich weiß nicht, ob auch dies ein Stück Feng Shui ist jedenfalls ist es gut für die Kunst, denn so werden die Menschen an den Bildern und Objekten vorbei geführt.

An Bildern und Objekten, die den Anlass für dieses Treffen bieten. Ingrid Wiche, rastlose, im Bann von Feng Shui nie ausgepumpte Ideenspenderin und Organisatorin, hat die für die Autobahnraststätte Verantwortlichen überzeugen können mit ihrem Konzept, den schönen Bau noch aufzuwerten und Menschen, die großenteils nicht in Galerien zuhause sind, an die Kunst zu bringen. Elf Künstlerinnen und ein Künstler sind hier vertreten; die meisten gehören dem Forum Künstlerinnen an, einige arbeiten – in einer fruchtbaren Kooperation – mit der Galerie Eva Maria Hill in Remseck-A klingen zusammen. Mehr als zwölf hätten es nicht sein dürfen; die Zahl 13 ist auch in China eine Unglückszahl, wie jede Zahl, deren Quersumme 4 ergibt. Diese Zahlenmystik gehört /um Wissen der Eingeweihten, wie auch der Hinweis auf die Bedeutung bestimmter Formate.